Montag, 6. Dezember 2010

Die Kritikneurose

Wenn es um Israel geht, muss man in Deutschland vorsichtig sein. So lautet das Credo nicht weniger „kritischer“ Artikel und Fernsehbeiträge, wenn in Israel mal wieder etwas im Argen liegt. Denn Israelkritik sei in Deutschland nicht einfach: Sofort werde mit der Antisemitismuskeule gewedelt. Und außerdem müsse man als Deutscher eine besondere Sensibilität und auch Solidarität gegenüber Israel zeigen – wegen der Vergangenheit und so. Dieses Argument wird nicht selten sogar unsinnigerweise von Politikern und Journalisten gebracht, die als Israelfreunde gelten.

Mit der Realität hat diese leicht pathologische Selbstreflexion allerdings herzlich wenig zu tun. Das dürfte klar werden, wenn man sich die Berichterstattung in deutschen Medien zu einem beliebigen Thema mit Israelbezug ansieht. Oder die Umfragen, denen zufolge die Mehrheit der deutschen Bevölkerung Israel als größte Bedrohung des Weltfrieden ausgemacht hat. Oder die Tatsache, dass der deutsche Bundestag in einer historisch einzigartigen Geste der Geschlossenheit einstimmig die Aufhebung der Blockade Gazas forderte – von einer solchen Einstimmigkeit ist das Parlament ansonsten bei jedem anderen Thema, selbst wenn es um die schlimmsten Diktaturen und Terrorregime der Welt geht, meilenweit entfernt.

Israelkritik wird immer, überall und permanent in diesem Land geübt. Das Wort allein sagt viel aus über das Verhältnis der Deutschen zum Judenstaat. Ein solches Kompositum gibt es in der deutschen Sprache für kein anderes Land auf der Welt. Eine Google-Suche nach „Irankritik“ liefert 1.670 Ergebnisse und die Nachfrage „Meinten Sie: Iran Kritik?“. In Deutschland herrscht kein Kritikverbot, wie es so oft herbeiphantasiert wird, sondern eine Kritikneurose, ein geradezu pathologischer Zwang zur Kritik an der einzigen Demokratie im Nahen Osten, deren Schwächen und Probleme uns offensichtlich weit stärker umtreiben als gehängte Schwule und gesteinigte Frauen im Iran, inhaftierte und abgeschobene Regimekritiker in Kuba, drangsalierte Minderheiten in China oder massakrierte Flüchtlinge im Sudan.

Ein Paradebeispiel für diese Neurose bietet die „neutrale“ Berichterstattung der Tagesschau zu den verheerenden Waldbränden im Norden Israels, die bereits über 40 Menschenleben gefordert haben. Seit drei Tagen kann ARD-Korrespondent Oliver Mayer-Rüth in seinen Berichten über die Katastrophe sich partout nicht verkneifen, zynisch und arrogant darauf hinzuweisen, dass man ja eigentlich irgendwie selbst schuld sei. Zuerst hieß es unter Berufung auf israelische Kritiker, die weder in der Jerusalem Post, noch der Ha’aretz, noch der New York Times zu Wort kommen, dass bei der Feuerwehr zugunsten des Militärs gespart worden sei. In einem späteren Kommentar hat Herr Mayer-Rüth zwar offensichtlich begriffen, dass die Tagesschau sich nicht einfach Kritik ausdenken kann, die in Israel keine Rolle spielt. Aber ein Hinweis auf die Unfähigkeit der „Militärmacht“ bei der Katastrophenbekämpfung, der nichts bleibe als, „den Kameras die Jugendlichen vorzuführen, die das Feuer ausgelöst haben sollen“ (was in Deutschland bekanntlich unvorstellbar wäre) lag ihm offenbar am Herzen. Es stellt sich die Frage, warum diese Leidenschaft zur kritischen Berichterstattung selbst zu den unangemessensten Anlässen bei Erdbeben auf Haiti oder Überflutungen in Pakistan oder Ostereuropa größtenteils ausbleibt.

Aber die Feuerwehr in Israel war doch tatsächlich unfähig, ohne Hilfe der Lage Herr zu werden. Wie ließe sich da positiver berichten? Eine Antwort auf diese Frage bietet die New York Times, die in ihren Artikeln zum Thema wiederholt darauf hinwies, dass Israel bei Umweltkatastrophen häufig zu den ersten Staaten gehört, die (vor allem medizinische) Hilfe schicken. Man könnte auch auf Netanyahus Versprechen hinweisen, eine eigene Fliegerstaffel zur Waldbrandbekämpfung auszubilden, die dann der ganzen Region inkl. der Westbank zu Verfügung gestellt werde. Sätze wie diese wären in der Tagesschau jedoch undenkbar, schließlich ist man zur Neutralität verpflichtet – oder dem, was Herr Mayer-Rüth darunter versteht.


Nachtrag: Selbstverständlich ist es nicht nur Sache der Tagesschau, "kritisch" über einen Waldbrand zu berichten. Auch die SZ gesellt sich zur Reihe der Kommentatoren, die angesichts einer Naturkatatrophe nichts als Häme für die Betroffenen übrig haben. Kommentiert wurde der Kommentar hier bereits von SoE.

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